Javelle Neumann von der AWO-Frauenberatungsstelle: "Alle sollen wissen, dass es uns gibt"
LEHRTE/SEHNDE/UETZE/BURGDORF
Javelle Neumann leitet die Frauenberatungsstelle der AWO im Ostkreis der Region Hannover: In Lehrte, Burgdorf, Sehnde, Uetze und Hänigsen können sich Frauen ab 18 Jahren in schwierigen Lebenssituationen oder Krisen beraten lassen. "Wir sind hier an fünf Standorten für die Frauen vor Ort da", erklärt Neumann: "So haben auch Frauen, die nicht mobil sind, die Möglichkeit, sich wohnortnah Hilfe und Unterstützung zu holen."
Vor ihrer Tätigkeit als Nachfolgerin der langjährigen Leiterin Brigitte Mende, die Ende vergangenen Jahres in den Ruhestand gegangen ist, war Neumann im Sozialdienst einer psychiatrischen Klinik tätig, wo sie über viele Jahre Erfahrungen unter anderem in der Arbeit mit Gewaltopfern gesammelt hat und in Leitungsfunktionen tätig war. Auf die Stellenausschreibung sei sie zufällig gestoßen, sagt die in Hildesheim lebende Diplom-Sozialpädagogin: "Ich fand sie inhaltlich sehr ansprechend und habe mich kurzerhand beworben." Die Strecke von ihrem Wohnort zur Beratungsstelle legt Neumann gelegentlich mit dem Fahrrad zurück. "Ich mag Bewegung und es macht den Kopf frei."
Neumann arbeitet aktiv in der Beratung von Frauen mit und sorgt als Leiterin für die Balance zwischen Netzwerkarbeit, Öffentlichkeitsarbeit und der eigentlichen Beratungstätigkeit. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Organisation von externen Fachkräfteschulungen, bei denen unter anderem Mitarbeiterinnen der Stadt und Stadtteilmütter für das Thema Gewalt sensibilisiert werden. Im Mittelpunkt stehe aber immer die Beratung, sagt Neumann.
Besonders freut sich Neumann über ihr Team: "Alle Kolleginnen in der Beratungsstelle sind qualifiziert, hoch motiviert und brennen für ihre Arbeit." Die Anliegen der Rat suchenden Frauen sind vielfältig: Sie reichen von Trennung und Scheidung über sexuellen Missbrauch, häusliche Gewalt und andere Krisensituationen bis hin zu rechtlichen Fragen oder Unsicherheiten im Umgang mit Behörden. Neumann: "Zu uns kommen aber auch Frauen, die mit ihrer Lebenssituation unzufrieden sind, sich im Beruf überlastet fühlen, von Wohnungslosigkeit betroffen sind oder die Zeit bis zum Beginn einer Therapie überbrücken wollen." Sie kommen aus allen Altersgruppen, sozialen Schichten und verschiedenen Nationalitäten. "Wenn eine Frau ganz akut Hilfe benötigt, versuchen wir, so schnell wie möglich einen Termin mit ihr zu vereinbaren."
Neumann ist es wichtig, das Angebot der Frauenberatungsstelle in der Öffentlichkeit immer bekannter zu machen: "Alle sollen wissen, dass es uns gibt. Wir werben aktiv für unser Angebot, verteilen Flyer in Arztpraxen, sind auf verschiedenen Veranstaltungen präsent und stellen uns vor." Immer in enger Kooperation mit den Gleichstellungsbeauftragten der Kommunen, um die Arbeit zu koordinieren und zu schauen, an welcher Stelle noch mehr Bedarf besteht, auf die Frauenberatung aufmerksam zu machen, berichtet Neumann.
Die Frauen kämen auf unterschiedlichen Wegen in die Beratungsstelle – durch die Veranstaltungen, Aktionen und Flyer oder durch die Vermittlung von anderen Stellen. Besonders wichtig sei auch die Zusammenarbeit mit der Polizei, da von häuslicher Gewalt betroffene Frauen oft von den Behörden an die Frauenberatungsstelle verwiesen würden. Dabei stehe immer die Freiwilligkeit der Frauen im Vordergrund, so Neumann: "Sie entscheiden selbst, welche Schritte sie in welchem Tempo gehen wollen." Die Beraterinnen informieren und begleiten die Frauen auf ihrem Weg. Die Sicherheit, das Wohlergehen und die Stärkung der Frauen habe dabei oberste Priorität.
Neben der klassischen Sozialberatung und der Unterstützung in rechtlichen Angelegenheiten durch eine Rechtsanwältin bietet die Frauenberatungsstelle auch verschiedene Veranstaltungen und Gruppenangebote, die kostenlos in Anspruch genommen werden können. Dazu gehören unter anderem Themen wie Empowerment, Trennung und Scheidung, Grenzen setzen in der Kommunikation, Resilienz oder Selbstverteidigungskurse. Auch hier stehe die Stärkung der Frauen im Mittelpunkt, sagt Neumann: "Wir arbeiten ressourcenorientiert."
Besorgniserregend ist für Neumann der massive Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt: "Bei uns suchen deutlich mehr Frauen Hilfe wegen Gewalterfahrungen als zuvor." Das gehe ebenfalls aus der Polizeistatistik hervor und sei auch in der AWO Koordinierungs- und Beratungsstelle des BISS-Verbundes (Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt) deutlich spürbar. Die Gründe dafür seien unklar und lägen in verschiedenen Faktoren, unter anderem in einer entsprechenden Dunkelziffer und einem Verlust an sozialer Kompetenz in der Gesellschaft, vermutet Neumann. "Im besten Fall ist es so, dass die Zahl der Gewaltdelikte gleichgeblieben ist, es aber mehr Frauen schaffen, zu uns in die Beratung zu kommen und deshalb gezählt werden." Der schlechteste Fall wäre, dass die Anzahl der Fälle während der Corona-Pandemie gestiegen ist, erklärt Neumann. In dieser Zeit seien viele unterstützende Faktoren wie Vereinsleben oder Sport- und Freizeitaktivitäten weggefallen. Hinzu kommen weitere Belastungen wie gestiegene Armut und oft auch Einsamkeit. Vielleicht habe die soziale Kompetenz so gelitten, dass die Gewaltbereitschaft gestiegen sei.
Für die Zukunft wünscht sich Neumann, dass die Hemmschwelle für Frauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen, noch weiter sinkt: "Wir haben viele Frauen, die schon länger mit dem Gedanken spielen, eine Beratung in Anspruch zu nehmen, bevor sie sich tatsächlich auf den Weg machen."