Region Hannover
Dienstag, 01.11.2022 - 16:46 Uhr

Die häusliche Versorgung für 60.000 psychisch Erkrankte in Gefahr

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Psychisch erkrankte Menschen haben einen gesetzlichen Anspruch auf ärztlich verordnete ambulante psychiatrische Krankenpflege (pHKP). "Diese Versorgungsform ist durch die aktuellen gesetzlichen Regelungen in Gefahr, denn die Krankenassen sehen keine Möglichkeit für Vergütungssteigerungen", teilt Kai Dase, Sprecher psychiatrische Dienste Niedersachsen, aus der Wedemark mit.

 

In enger Kooperation mit einem Facharzt stehen bei der ambulanten psychiatrischen Pflege die Krisenintervention und die Verhinderung von vermeidbaren Krankenhausaufenthalten im Fokus. Darüber hinaus ist auch die anschließende Versorgung in psychiatrischen und suizidalen Krisen sowie die Umsetzung therapeutischer Maßnahmen und die Herstellung von Arbeitsfähigkeit das Handlungsfeld der psychiatrischen Krankenpflege.

 

Diese Behandlung wird ausschließlich durch dreijährig examinierte Pflegefachkräfte mit umfangreicher psychiatrischer Zusatzausbildung durchgeführt. Die Leistungen sind in Qualität und Qualifikation die höchsten in der gesamten häuslichen Krankenpflege und werden zudem minutengenau mit den Krankenkassen abgerechnet.

 

Um auch diese Pflegekräfte nach dem Tariftreuegesetz bezahlen zu können, verhandeln mehr als 90 Prozent der niedersächsischen Fachpflegedienste mit den Krankenkassen über eine angemessene Vergütung ihrer Leistungen. "Und genau hier liegt das Problem: Eine Bereitschaft der gesetzlichen Krankenkassen, die von der Politik entschiedene Tariftreue im Pflegebereich auf diese Leistung anzuwenden, liegt leider immer noch nicht vor", so Kai Dase.

 

Ein Umsetzungsvorschlag der Dienste über ein vereinfachtes Verfahren - so wie auch bereits im Geltungsbereich der ambulanten somatischen Pflege vereinbart - sei den Krankenkassen zusätzlich mit hundert Gehaltsnachweisen der betroffenen Dienste vorgelegt worden. Gleichsam wurde eine eidesstattliche Versicherung zur Richtigkeit der Daten angeboten. "Die Hinhaltetaktik sowie das unwürdige Verhandlungsgebaren der Krankenkassen, hat das zwingend notwendige Verhandlungsergebnis bisher jedoch verhindert", erklärt er.

 

"Die psychiatrischen Fachpflegedienste erhalten die Entgelte für die notwendige Vergütung der fachlich hoch qualifizierten Pflegekräfte nicht. Dies hat dramatische Auswirkungen: Die ambulante psychiatrische Versorgung, als wichtiger Baustein in der Gesundheitsversorgung, geht ohne finanzielle Lösung in naher Zukunft verloren. Mehr als 60.000 Menschen in Niedersachsen, die diese Leistungen pro Jahr benötigen, würden damit ohne notwendige Behandlung dastehen.

 

Auf Grund dieser Situation haben schon jetzt die ersten Fachpflegedienste ihre Schließung angekündigt. Weitere werden gezwungenermaßen folgen", betont Kai Dase.

 

Eine Anpassung und Anwendung des Tariftreuegesetzes und der damit verbundenen Finanzierung, wie in der somatischen Pflege, sei zwingend erforderlich, "damit die hoch qualifizierten und ausgebildeten FachpflegerInnen mit einem angemessenen Lohn ihre Tätigkeit weiter ausüben können. Faire Verhandlungen seitens der Krankenkassen sind jetzt - ohne Wenn und Aber - von extrem wichtiger Bedeutung. Gerade in diesen Krisenzeiten ist diese besondere Versorgungsform nötig und muss erhalten bleiben. Die Patientinnen und Patienten dürfen nicht die Leidtragenden der mangelnden Bereitschaft der Kassen zur auskömmlichen Vergütung werden."

 

Weitere Stimmen aus der Praxis:

Marius Schachta, Geschäftsführung eines betroffenen Dienstes der AWO Niedersachsen MVZ gGmbH: "Wenn nicht sofort gehandelt wird, kann die Verweigerung der Krankenkassen eine tarifgerechte Bezahlung auch in der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege zu ermöglichen, die Insolvenz von vielen Diensten bedeuten. Damit ist die ambulante Versorgung von psychiatrisch erkrankten Menschen bedroht und das zusätzlich in Zeiten, in denen sich die stationäre Versorgung in Krankenhäusern bereits am Limit bewegt."

 

Anita Becker, Geschäftsführerin Lotse e.V. Mitglied im Caritasverband für die Diözese Osnabrück: "Das Tariftreuegesetz verfolgt die beste Absicht- eine bessere Bezahlung in der Pflege. Die praktische Anwendung führt zu einer kuriosen und nicht akzeptablen Situation: die Krankenkassen verzögern und verzerren Verhandlungen in der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege immer wieder und vermeiden es so, die realen Bedingungen der Leistungserbringer zur Kenntnis zu nehmen. Leidtragende sind am Ende die Menschen, die wegen fehlender psychiatrischer Dienste keine ambulante Unterstützung bekommen." 

 

Marcus Schumacher, Diakoniestation Hesel-Jümme-Uplengen gGmbH: "Die Krankenkassen sollten sich dringend Ihrer Verantwortung gegenüber den Versicherten bewusstwerden. Mit Ihrer verweigernden Haltung gefährden sie die ambulante Versorgung vieler Patienten/Patientinnen und die Existenz der Dienste. Die Basis ist eine auskömmliche Vergütung, damit Pflegefachpersonen tariflich oder tarifangelehnt entlohnt werden und die Dienste perspektivisch wirtschaftlich arbeiten können."

 

Ulf Trombach, Geschäftsleitung Ambulantes Zentrum Hildesheim für ganzheitliche und psychiatrische Betreuung GmbH: "Nach 15 Jahren konstruktiver Zusammenarbeit mit den Krankenkassen sehe ich die ambulante psychiatrische Pflege in ihrer Existenz gefährdet. Eine gut gemeinte Regelung unserer Bundesregierung führt für uns in ein Desaster. Ich rufe zu verantwortungsvollem Handeln auf."

 

Ann Trispel, Pflegedienstleitung APP-Hemmoor GmbH: "Die aktuelle Entwicklung stellt für unseren ambulant psychiatrischen Fachpflegedienst eine unerträgliche Situation dar. Hochqualifizierte Fachpflegekräfte können nicht entsprechend ihrer beruflichen Erfahrung und Qualifikation entlohnt als auch für die anspruchsvolle Tätigkeit perspektivisch gefunden werden, sodass wir die ländlich ambulante Versorgungsstruktur im Bereich der psychiatrischen Pflege unmittelbar als gefährdet betrachten".

 

Kai Dase, Sprecher psychiatrische Dienste Niedersachsen: "Solch eine ausweglose Verhandlungssituation gab es noch nie: Die Krankenkassen sind der Auffassung, dass tarifliche Löhne refinanziert sind, nur weil es ein paar wenige Tarifanwender gibt. Dabei arbeiten diese Tarifanwender nachweislich alle defizitär und können somit gar keine Blaupause für andere Dienste sein."