Lehrte
Sonntag, 02.08.2020 - 17:36 Uhr

So rettete die Feuerwehr sieben Menschen aus einem brennenden Haus

Der Einsatzleiter gibt einen Einblick in die Abläufe

Lehrtes Ortsbrandmeister Marc Wilhelms leitete den nicht alltäglichen Einsatz und gibt einen Einblick hinter die Kulissen.Aufn.: Bastian Kroll

Dass Angehörige der Feuerwehren in die Situation kommen, in denen sie Menschenleben retten, ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches: Bei Verkehrsunfällen, Arbeitsunfällen, hilflosen oder bewusstlosen Personen in Wohnungen sind die Feuerwehrkräfte häufig gefordert. Allen Situationen ist meist gemeinsam: Das Unglück war bereits eingetreten und ließ sich nicht verhindern.

LEHRTE

Eine Situation stellt die Brandbekämpfer allerdings mit Abstand vor eine besondere Herausforderung: Menschen versuchen sich bei einem Brand vor den Flammen und den giftigen Rauchgasen in Sicherheit zu bringen. So geschehen jüngst am vergangenen Wochenende in Lehrte.

 

In einer solchen Situation sind die betroffenen Personen meist noch unverletzt, schweben aber zum Teil in höchster Lebensgefahr. Das Leben der Personen liegt nun in den Händen derjenigen, die zur Hilfe eilen. Deren Handeln entscheidet über Leben und Tod.

 

Vor dieser Situation stand in der Nacht auf den vergangenen Sonntag Lehrtes Ortsbrandmeister Marc Wilhelms und die Brandbekämpfer der Lehrter Feuerwehren. Wie vermutlich alle Mitglieder der Ortsfeuerwehr Lehrte wurde er gegen 2:30 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Ein Blick auf den Meldeempfänger: "Feuer. Vermutlich 10 Personen im Gebäude". Kein alltäglicher Einsatz.

 

Von 0 geht es auf 100 für die Einsatzkräfte und insbesondere für Marc Wilhelms, der - nachdem er am Feuerwehrhaus angekommen ist - als Ortsbrandmeister die Leitung des Einsatzes übernimmt. Vor seiner Ankunft am Einsatzort weiß er so gut wie nichts über die Situation, in der er sich kurze Zeit später wiederfinden wird.

 

Gedanken über das mögliche Szenario machen kann er sich wenig. "Ab dem Aufsitzen auf dem Fahrzeug drehen sich die Gedanken nur noch um den Einsatz, der bereits im Fahrzeug vorbereitet wird", erklärt er.

 

Alle rund 90 Mitglieder der Ortsfeuerwehr Lehrte sind ehrenamtlich in der Feuerwehr. Nur in Großstädten gibt es Berufsfeuerwehrkräfte. Außer diesem Unterschied haben sie alles gemein: dieselben Lehrgänge, Ausbildungen und die kontinuierliche Weiterbildung, um auf die extremsten Situationen vorbereitet zu sein.

 

Marc Wilhelms kommt mit dem ersten Fahrzeug am Einsatzort an. Er sieht Menschen auf dem Dach und den Balkon. Im Keller wütet ein Feuer. Nun muss es schnell gehen. Auf einer Dachterrasse im 2. Obergeschoss stehen fünf Personen. Sie rufen um Hilfe - allerdings auf polnisch. "Zwei Personen waren im Gesicht komplett schwarz. Es war eine extreme Situation, denn ich konnte nicht verstehen, was sie sagen und daher vor allem nicht abschätzen, was sie als Nächstes machen. Zwei kletterten unvermittelt aufs Dach", erinnert sich der 46-Jährige. "Laufen sie eventuell zurück in die Wohnung? Oder kommen sie gar auf die Idee zu springen", schießt es ihm durch den Kopf. "Bleibt ruhig, die Drehleiter ist gleich da", ruft er ihnen zu. Die fünf Männer haben seine Worte wohl nicht verstanden, was es ihm nicht einfacher macht. Die Situation hoch oben bleibt unklar und auch unvorhersehbar.

 

Die Lagebeurteilung sagt ihm: Die Menschen müssen schnellstens aus dem Gebäude. Der Fluchtweg ist schon alleine durch den Rauch versperrt. Das Feuer im Keller hat sich mittlerweile in den Treppenraum ausgebreitet, wo nun die Flammen deutlich sichtbar werden.

 

Er lässt bei der Ankunft der Drehleiter - die nur wenig später eintrifft - diese sofort in Stellung bringen. Weitere Kräfte stellen eine Steckleiter auf, um zwei weitere Personen von einem Balkon im 1. Obergeschoss zu retten.

 

Sind nun wirklich alle Personen aus dem Gebäude? 17 Personen wohnen in dem Haus, erzählen die Geretteten. Beim Durchzählen der Schock: Es sind nur 16. Einer fehlt. Für Marc Wilhelms heißt das: Das Gebäude muss durchsucht werden und ein Trupp wird hineingeschickt. Parallel war das Feuer bereits eingedämmt worden. Der Treppenraum muss frei bleiben, die Menschenrettung hat weiterhin oberste Priorität.

 

Schon vor dem Einsatz hatte er entschieden, den Einsatzleitwagen mit zwei weiteren Personen zu besetzen. Das Personal auf dem Einsatzleitwagen ist sein verlängerter Arm, von hier aus wird der Einsatz koordiniert. Abschnitte werden gebildet, damit er nicht alles alleine machen muss. "Das schafft man nicht", erklärt er und verteilt die Aufgaben auf mehrere Schultern.

 

Was ihm allerdings jederzeit durch den Kopf geht: Hoffentlich kommen alle unversehrt wieder raus. Die Sicherheit wird bei allen Maßnahmen an oberste Stelle gestellt. Eine Gefährdung von Feuerwehrkräften ist auszuschließen. "Doch bei aller Beurteilung der Lage und Einhalten von Sicherheitsaspekten: Lauert vielleicht doch noch irgendwo eine bislang nicht erkannte Gefahr", geht es ihm durch den Kopf. Sicher sein kann man sich nie. Ein Benzinkanister, eine Propangasflasche oder auch einfache Haushalts-Chemikalien können die Lage schnell unberechenbar machen und seine Mannschaft in Gefahr bringen. Er weiß: In Kellerräumen kann alles mögliche gelagert sein. Gedanken, die er beiseite schiebt, ihn aber bis zum Einsatzende verfolgen. Das Fazit, das er dann ziehen wird: "Zum Glück ist alles gut gegangen".

 

Er selbst kennt das Leben in der Feuerwehr von der Pike auf. Mit 10 Jahren Eintritt in die Jugendfeuerwehr, mit 16 Jahren die Truppmannausbildung absolviert und in den aktiven Dienst eingetreten, daran schlossen sich weitere Ausbildungen an. Bis zum Verbandsführer hat er Lehrgänge besucht, was das Führen von drei Löschzügen beinhaltet. Er selbst kennt es, in brennende Gebäude zu laufen, selbst die Anweisungen zu erhalten und durchzuführen. "Das schwierigste ist es für viele, in einer Führungsposition nicht selbst noch anzupacken", erklärt er. Er muss als Einsatzleiter das große Ganze überblicken. Sobald er sich auf nur eine einzige Tätigkeit konzentriert, ist der reibungslose Einsatzablauf gefährdet.

 

Die Lage vor Ort ist noch immer dynamisch. Im Keller brennt es nach wie vor, der Rauch wird dichter. Weitere Kräfte kommen an der Einsatzstelle an. Und wenden sich ebenfalls an den Einsatzleiter. Der erste Trupp kommt aus dem Gebäude raus. Keine Person gefunden. "Weitersuchen" befielt der Ortsbrandmeister und wieder verschwinden zwei Einsatzkräfte unter Atemschutz im verrauchten Gebäude.

 

Die nachrückenden Kräfte sie erhalten ihre Befehle: Die Wasserversorgung herstellen, die Atemschutzgeräteträger rüsten sich aus, die Brandbekämpfung muss eingeleitet werden. Lichtmasten fahren aus Löschfahrzeugen aus, weitere Strahler werden aufgestellt und so die Nacht zum Tag gemacht. Was neben der Unfallverhütung an der Einsatzstelle auch hilfreich für die Kräfte im Keller sein kann, die nun wenigstens von Draußen ein wenig Licht ins Dunkel bekommen.

 

Marc Wilhelms verlässt sich auf seine ihm unterstellten Führungskräfte und den diesen unterstellten Einsatzkräften. "Feuerwehr ist Teamarbeit", erklärt er, "da muss jedes Zahnrad ineinandergreifen, was bei diesem Einsatz perfekt geklappt hat". Nicht ohne Grund übt die Ortsfeuerwehr solche Situationen. Gerne auch in einer noch komplexeren Lage. Denn dann weiß im Einsatz jeder, was zu tun ist. "Das war kein alltäglicher Einsatz", wird er später urteilen. Während sich viele Einsatzlagen ähneln und häufig wiederholen, komme ein solcher Einsatz vielleicht alle 4 bis 5 Jahre vor.

 

Er selbst bleibt während des Einsatzes in Kontakt mit den Abschnittsleitern, beurteilt die Lage unentwegt und muss neue Entscheidungen treffen. Er sieht den nächsten Trupp unter Atemschutz im Gebäude verschwinden. In der Hand das nun wichtigste Gerät: Schlauch und Hohlstrahlrohr. Die Flammen im Keller müssen bekämpft werden. "Da unten ist absolut keine Sicht. Es ist total finster", berichtet später ein Trupp, der nach dem Einsatz schweißgebadet zunächst zur Wasserflasche greift.

 

Der Rauch breitet sich weiter aus und erschwert die Arbeiten. Das Gebäude muss vom Rauch befreit werden. Also werden Fenster eingeschlagen und ein Druckbelüfter vor die Haustür gestellt. Der Rauch wird aus dem Gebäude gedrückt.

 

"Feuer unter Kontrolle" heißt es 14 Minuten nach der Ankunft des ersten Löschfahrzeuges. Alle geretteten Personen sind in den Händen des Rettungsdienstes. Doch noch immer fehlt eine Person. Mittlerweile wird der dritte Trupp zur Suche ins Gebäude geschickt. "Das kann doch nicht wahr sein", schießt es Marc Wilhelms durch den Kopf. Und, er selbst muss heute drüber schmunzeln, fragt er sich: "Da wohnen wirklich 17 Personen drin?" Immerhin steht er vor einem Einfamilienhaus und keinem Hochhaus mit Mietwohnungen. Später erfährt er, dass dort Handwerker untergebracht sind. Nach fast einer Stunde gibt es Entwarnung: Die fehlende Person war nicht im Gebäude sondern hatte einen Freund besucht. Die Personensuche kann abgebrochen werden. "Es ist alles reibungslos abgelaufen", urteilt nach dem Einsatz auch Stadtbrandmeister Jörg Posenauer, der ebenfalls vor Ort ist.

 

Die Anspannung weicht nun allmählich, doch der Körper wird noch einige Zeit brauchen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Rund dreieinhalb Stunden waren die Ehrenamtlichen im Einsatz. Um 4:30 Uhr sind sie wieder im Feuerwehrhaus, dort folgen die obligatorischen Nacharbeiten wie die Wiederherstellung der vollständigen Einsatzbereitschaft aller Materialien und Fahrzeuge. Um 6 Uhr ist der Einsatz offiziell beendet. Eine halbe Stunde später ist Marc Wilhelms wieder zu Hause. An schnelles Einschlafen ist für viele nicht zu denken, als sie wieder nach Hause kommen. Nicht für den Einsatzleiter, nicht für die Einsatzkräfte, die selbst dabei waren und alles Menschenmögliche getan haben, um ihren Mitmenschen zu helfen. In diesem Fall: Ihnen das Leben zu retten.

 

Mit Lehrtes Ortsbrandmeister Marc Wilhelms sprach AltkreisBlitz-Redakteur Bastian Kroll, der auch beim Einsatz vor Ort war. Der zum Einsatz erschienene Bericht ist Opens external link in new windowhier zu finden.